„Hermann der Cherusker“ in der Weltgeschichte von Karl Friedrich Becker (1828)

Beim Verfassen der Besprechung von Thomas Brocks Buch Alles Mythos! erinnerte ich mich, daß wir aus altem Familienbesitz mehrere Bände einer Weltgeschichte aus den Jahren 1828 und 1829 haben. Und ich fragte mich, wie die Schlacht im Teutoburger Wald, bei der im Jahre 9 n. Chr. die römischen Truppen unter Quintilius Varus von einer aus germanischen Stämmen vereinten Truppe unter Führung des Cheruskers und ehemaligen römischen Offiziers Arminius aufgerieben wurden, wohl in diesem alten Buch dargestellt sein mochte?

Das Buch hieß ursprünglich Weltgeschichte für Kinder und Kinderlehrer von Karl Friedrich Becker und erschien von 1801 bis 1805 in neun Bänden. Danach erschienen noch zahlreiche weitere, z. T. sehr stark bearbeitete Auflagen. Meine Bände stammen aus der sechsten Auflage, die nach Erweiterungen von Johann Gottfried Woltmann und Karl Adolf Menzel durch Johann Wilhelm Löbell bearbeitet wurde.1

„Hermann der Cherusker“ in der Weltgeschichte von Karl Friedrich Becker (1828) 1

Wie der angehängte Originaltext zeigt, wird Arminius als Hermann bezeichnet und als Befreier Deutschlands gefeiert. Das ist ziemlicher Humbug. Hermann ist nur eine germanisierende Klangassoziation von Arminius, die um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert entstanden ist. Sein tatsächlicher germanischer Name ist unbekannt. Und Brock begegnet schon der Bemerkung Tacitus’, er sei der Befreier Germaniens, mit dem Hinweis, daß nur Westfalen, das rechtsrheinische Rheinland und kleine Teile Niedersachsens und Hessens befreit wurden. Und die linksrheinischen und süddeutschen Provinzen Roms wurden sowieso nicht aufgegeben. Der Begriff Deutscher setzt sich erst im ausgehenden Frühmittelalter durch, um sich von Sprechern romanischer Sprachen abzugrenzen. Arminius befehligte ein Heer, das aus verschiedenen Stämmen zusammengestellt war, die nicht einmal ein germanisches, geschweige denn ein deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl hatten. Brock führt solche völlig ahistorischen Projektionen auf die Zersplitterung Deutschlands in zahllose, mitunter winzige Territorien zurück, die insbesondere in Krisenzeiten immer wieder Appelle an ein deutsches Gemeinschaftsgefühl hervorriefen und sich dabei kaum um historische Gegebenheiten scherten.

In den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München – wobei der Titel im Katalog merkwürdigerweise mit Apostroph vor dem Genitiv-s angegeben ist – oder mit Google Books hat man online Zugriff auf mehrere Ausgaben von Beckers Weltgeschichte, darunter auch der hier verwendeten. Allerdings handelt es sich nur um Fotographien, nicht um OCR-Erfassungen. Deswegen dokumentiere ich hier den Volltext des betreffenden Kapitels:

Befreiung Deutschlands durch Hermann (9 n. Chr.)


Als Tiberius Niederdeutschland nach seinem glanzreichen Zuge durch dessen Gauen verließ, war Sentius Saterninus dort Statthalter geblieben, und dieser, dessen gute Eigenschaften gerühmt werden, suchte die Deutschen durch Freundlichkeit und durch die Lockungen, welche das cultivirte Römische Leben gewähren konnte, zu gewinnen. Längst waren Deutsche Schaaren zu Römischen Kriegsdiensten gebraucht worden, und da nun die Edleren und Ausgezeichneteren derselben, mit Bürgerrecht und Ehrenzeichen belohnt, heimkehrten, so schien es in der That, als ob den Deutschen, die bis auf den heutigen Tag an der Weise des Auslandes so vielen Geschmack finden, die Römische Sitte zu behagen anfinge, und als ob sie sich eben darum gegen das ihnen aufzubürdende Joch der Knechtschaft weniger sträuben würden. Des Saturninus Nachfolger, der durch sein Unglück in der Geschichte so bekannt gewordene Quintilius Varus, glaubte nun, mit römischem Hochmuth und dem Gefühle der Überlegenheit über Barbaren, die Deutschen Völker am Niederrhein und der Weser völlig als Unterworfene behandeln zu dürfen. Wie in dem längst an niedre Knechtschaft gewöhnten Syrien, dessen Statthalter Varus früher gewesen war, gebot er Lieferungen und ließ Abgaben eintreiben, gleich als hätten die Deutschen ihre Unabhängigkeit in der That schon gänzlich eingebüßt. Was aber die erschreckten, nicht überwundenen Männer noch weit mehr als diese Forderungen empörte, war die Römische Rechtspflege, welche Varus üben zu dürfen glaubte. Nach der Weise eines Römischen Prätors saß er zu Gericht, ließ die Händel von Sachwaltern führen, entschied dann, und befahl, nach Befinden der Umstände, freie Deutsche Männer mit Ruthenhieben zu züchtigen, ließ auch wol ihre Häupter unter dem Beile fallen. Der Deutsche aber erkannte in seinem Freiheitsstolz sonst keinen anderen Richter über sich, als die ihm gleichen Männer seines Gaues, erkannte keinem Gesetze und keinem Richterspruche die Befugnis zu, körperliche Züchtigung oder gar Todesstrafe zu verhängen.


Unter Denen, welche diese Schmach des Deutschen Volkes tief fühlten, und deren Gemüth darüber von Zorn und Schmerz erfüllt war, war besonders ein Jüngling ausgezeichnet, welchen die Römer Arminius genannt haben, die neueren Schriftsteller unsers Volkes Hermann nennen. Er war ein Sohn Siegmars des Vornehmsten unter den Cheruskern. An Tüchtigkeit des Körpers wie Seele, an Scharfblick, Geistesstärke und Entschlossenheit ragte er vor seinem Volke hervor. Trotz seiner Jugend hatte er Deutsche Bundestruppen für die Römer in den Pannonischen Krieg geführt, und war mit Bürgerrecht und Ritterwürde belohnt worden. Auch seine geistige Bildung war so ausgezeichnet, daß die Römer in ihm den Barbaren nicht mehr erkannten, doch sein Sinn war völlig Deutsch geblieben. Seine ganze Seele erfüllte der Gedanke, sein Vaterland zu befreien, aber er erkannte die volle Schwierigkeit eines Angriffs auf Varus, welcher an der Spitze von drei Legionen und sechs Cohorten — im Deutschen Lande stand; er wußte, welch ein Übergewicht die Kriegskunst und die wohlgeordnete Zucht dieser Schaaren ihnen über die ungebildete, regellose Tapferkeit der Deutschen gab. Dennoch verzweifelte er nicht an Rettung. Er fing damit an, Gleichgesinnten sein Vorhaben mitzutheilen, und gewann in der Stille Viele für seinen großen Plan, das Vaterland vom Joche der Knechtschaft zu befreien. Als Segestes, ein mächtiger Mann unter den Cheruskern, welcher bequeme Ruhe und Ansehen unter fremder Abhängigkeit gefahrvollen Kämpfen um die Freiheit vorzog, von diesen Verabredungen Kunde erhielt, warnte er Varus; aber dieser, mehr aus dünkelhafter Geringschätzung der Anschläge, die von den Barbaren ausgehen könnten, als durch besondere List Hermanns getäuscht *), verachtete die Warnung. Als Hermann nun seine Anschläge für gereift hielt, mußte auf seinen Wink ein entfernter Stamm die Feindseligkeiten beginnen. Sofort brach Varus auf zur Dämpfung des Aufstandes (9 n. Chr.), während Hermann zuerst alle Mitwisser seines Vorhabens aufbot, dann durch alle Gaue den Ruf zur Freiheit erschallen ließ. Die Cherusker, die rechts von der Weser, die Brukterer, die an der Lippe, die Marsen, die im heutigen Münsterschen wohnten, die Chatten, die Stammväter der Hessen, waren es, die in großen Schaaren diesem Aufgebote folgten, und sich unter Hermanns Führung stellten. Den Varus führte sein Weg durch den dichten Teutoburger Wald, wo ein einbrechendes Unwetter bald sie Schwierigkeiten des Fortzuges vermehrte. Schauerlich heulte der Sturm und entwurzelte Bäume, welche den Weg versperrten, der häufig herabstürzende Regen verwandelte den Boden unter den Füßen der Römer in Morast; während die Deutschen schon aus dem Dickicht den Kampf begannen und Geschosse schleuderten, Varus aber in fortwährender Verblendung sogar die Gegenwehr verbot. Mit großer Mühe führte er an diesem Tage das Heer auf einen freiern, zum Lager tauglichen Platz. Hier befahl er, die meisten Wagen und alles überflüssige Gepäck zu verbrennen, rastete die Nacht, und zog am folgenden Tage durch den unwegsamen Wald weiter. Wie am vorhergehenden wurden die Römer angefallen; jetzt verstattete der Feldherr den Kampf, aber ohne Erfolg. Wiederum erreichte er ein zweites Feld, und bezog ein Lager, und wiederum brach er am Morgen des dritten Tages auf, sich einen Ausweg zu bahnen; aber in der Vertilgungsschlachtdieses Tages endete er mit seinem ganzen Heere **). Die Begeisterung der Deutschen ihre Freiheit zu erkämpfen war stärker als der Muth, welchen die Verzweiflung den Römern eingab. Nur sehr Wenigen von ihnen gelang die Flucht, die Meisten wurden niedergemacht, Varus wollte die große Schmach nicht überleben, und stürzte sich in sein eignes Schwert. Die Rache des gereizten Volkes kannte keine Mäßigung. An Altären zu Ehren der Götter errichtet, wurde das Blut der gefangenen Römischen Kriegsobersten vergossen; Ander wurden an Bäume gehenkt, vorzüglich aber übten die Deutschen ihren Zorn an den verhaßten sachwaltern, die schmählig verstümmelt wurden. Der Gefangenen harrte ein trauriges Loos; mancher vornehme Römer mußte den Deutschen jetzt als gemeiner Knecht dienen.


So groß in den Gauen Deutschlands die Freude war, so groß war in Rom der Schrecken. Hier herrschte noch Jubel und Festlichkeit wegen der Pannonischen Siege, als die neue Botschaft die Freude in tiefe Trauer verwandelte. Es erneuerte sich die Furcht der Cimbrischen Zeit; selbst Augustus, der sonst stets, auch im Unglück, eine gemessene Haltung bewahrte, verlor alle Besonnenheit, und rief laut: Quintilius Varus, gieb mir meine Legionen wieder. Monate lang soll er mit allen Zeichen dieser Trauer gelebt haben. Aber die Furcht, daß die Deutschen ihren Sieg zu Angriffen benutzten, Gallien überschwemmen, gar in Italien einbrechen würden, war unbegründet. Zufrieden, den vaterländischen Boden von fremden Tyrannen befreit zu haben, begnügten sich die Deutschen, die in ihrem Lande befindlichen Schlösser und Schanzen der Römer einzunehmen, und sie zu schleifen. Auch entstand unter den Fürsten Zwiespalt. Hermann warb um Thusnelda, die Tochter des Segestes, und da der Vater, der ihn haßte, sie ihm verweigerte, entführte Hermann die Jungfrau, welche dem Befreier des Vaterlandes ihr Herz zugewandt hatte, und nahm sie zum Weibe. Darüber entbrannte die Feindschaft noch heftiger. Im nächsten Jahre nach der Schlacht ging Tiberius ungehindert über den Rhein, wagte es aber kaum, die Ufer desselben zu verlassen, aus Furcht bei weiteren Vordringen das Schicksal des Varus zu erleiden.

*) Mehrere alte Schriftsteller sprechen freilich von einer solchen arglistigen Täuschung, durch welche die Verschwornen, indem sie Anhänglichkeit an die Römische Regierung heuchelten, den sorglosen Varus umstrickten. Aber Roth (Hermann und Marbod S. 6) hat sich mit Recht gegen die Annahme dieser feinen Heuchelkünste bei Hermann erklärt. Luden, Bd. Ⅰ S. 233 u. fg., geht noch viel weiter. Ihm zufolge hat es eigentlich gar keinen vorher verabredeten Plan gegeben; die Deutschen haben nur die Gelegenheit des von Varus unternommenen Zuges benutzt.

**) Über den Ort, wo die Schlacht vorgefallen ist, ist viel gestritten worden, und eine genaue Bestimmung desselben möchte kaum noch möglich seyn. So viel sieht man, daß das Schlachtfeld nördlich von der Lippe, nicht weit von diesem Flusse, und nicht weit von der Weser war, wahrscheinlich also im heutigen Fürstenthum Lippe-Detmold.


Anmerkungen

1Karl Friedrich Becker, Johann Gottfried Woltmann [Erw.], Karl Adolf Menzel [Erw.], Johann Wilhelm Löbell [Bearb.]: Karl Friedrichs Beckers Weltgeschichte Dritter Theil. 6. Ausgabe, Berlin: Duncker und Humblot 1828. 555 S., hier S. 327-331.

„Hermann der Cherusker“ in der Weltgeschichte von Karl Friedrich Becker (1828) 2

Ingram Braun

Archaeologist, web developer, proofreader

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