Mythos und Heldensage
Vorbemerkung: Es handelt sich um ein undatiertes Vortragsmanuskript aus der Vorpowerpointzeit aus einem altskandinavistischen Seminar bei Wilhelm Heizmann in Göttingen, das mehrere Konzepte zur Ableitung der Heldensage aus dem Mythos vorstellt.
Andreas Heusler: Geschichtliches und Mythisches in der germanischen Heldensage
Das Konzept von Heusler beruht darauf, daß er zunächst die Rolle der historischen Fakten in den germanischen Heldensagen untersucht. Dabei kommt er zu dem Resultat, daß sich der Bestand an Geschichtlichem im wesentlichen auf Namen von Fürsten, Dynastien, Völkern und Orten beschränkt, wobei Orts- und Personennamen nicht immer im korrekten Zusammenhang bewahrt geblieben sein müssen. Der Motivschatz der Heldensage sei völlig unhistorisch, so daß eine Überlieferung von Geschichte nicht beabsichtigt gewesen sein kann. Ihr Inhalt ist frei von Chronologie, von Geographie und von strategischen Details oder aber befaßt sich nur rudimentär damit. Exemplarisch dafür ist Atlakviða 43: hier wird nicht etwa über den historischen Untergang der Burgunder geklagt, sondern über die gelungene Rache triumphiert. Das Kernstück der germanischen Heldensage ist lediglich die persönliche Fabel. Die von Heusler als unpersönliche Mächte
bezeichneten Kategorien Vaterland und Religion seien keine entscheidenden Triebkräfte gewesen, da etwa von Verteidigung von Freiheit und Vaterland selten die Rede sei, am ehesten noch in der mittelalterlichen Literatur Dänemarks. Glaubensstreiter sind die germanischen Helden weder im christlichen noch im heidnischen Sinne, ganz im Gegensatz zur altfranzösischen oder auch altdeutschen Literatur, wo sich nur allzu häufig Kämpfer im Namen Christi finden oder aber Sagenstoff aus heidnischer Zeit mit christlichen Attributen versehen wird. Heusler hält es für wahrscheinlich, daß die älteste Heldendichtung der Südgermanen religionslos gewesen sei, daß sie also keine ausgeprägten Züge heidnischen oder christlichen Kultes enthalten habe und nur aus Figuren der von ihm als niederen Mythos
bezeichneten weltlichen Sage bestanden habe.
Die Rolle des Mythos bei Heusler beginnt mit der Klärung der Frage, ob der von zahlreichen Autoren bis zu den Grimms zurück angenommene Ursprung der Heldensage aus Mythos und Geschichte für jede einzelne Sage zu gelten habe oder aber nur für deren Gesamtheit. Dabei geht es im Falle des Mythos nicht um einzelne phantastische Attribute wie Zwerge, Drachen, Zauberei etc., sondern um eine Gattung der oralen Literatur, die genetisch vor der Heldensage anzusetzen ist. Dieser Mythos ist eine Geschichte, in der sich ein urmenschlicher Gott offenbart, wobei ursprünglich davon ausgegangen wurde, daß sich in diesem Mythos ein Gott handelnd bewegen müsse. Diese Mythostheorie ist dann später dahingehend erweitert worden, daß man den sogenannten deutbaren Naturmythus
als Ursprung der Heldensage angenommen hat, also ein Mythos, dessen Träger keine Götter, sondern aus Göttern und Dämonen hervorgegangene halbgöttliche Heroen gewesen seien. Dabei entfernt sich das tatsächlich Erzählte vom eigentlichen Gehalt soweit, daß dieser Gehalt nicht mehr unmittelbar erkennbar wird, daher deutbarer Naturmythus. Heusler lehnt diese Theorie ab, da dem Zusammenfügen einer Biographie des Helden durch einen Dichter kein unerkannter Gehalt zugrunde liegen kann, da dieser ja gestalten will. Auf diese Weise blieben allenfalls Einzelheiten im Sinne des Naturmythus deutbar, nicht aber die ganze Heldensage. Im übrigen entspringen Drachen, Zwerge usw. durchaus einer Phantasie der Dichter, die sich solche Motive buchstäblich vorstellen konnte, da die Heldendichtung sich ja nicht in der Frühzeit der Menschheit verliert, sondern erst in verhältnismäßig elaborierten Phasen der Kulturentwicklung auftaucht. Desweiteren steht der Deutung von Heldendichtung aus Mythen entgegen, daß speziell im Germanischen die Fabeln der Göttergeschichten wenig Ähnlichkeit mit denen der Heldensage haben.
Auch das Märchen, dessen Konstruktion zwar durch Zauberei und Wunder vorangetrieben wird, ohne daß Götter oder Halbgötter handelnd eingreifen, ist im Zusammenspiel mit geschichtlichen Stoffen als Quelle der Heldensage angeführt worden. Bei einer Aufstellung der Heldensagen nach mythischen oder märchenhaften Motiven kommt Heusler aber zu dem Schluß, daß dem mythisch durchsetzten Stoffen wie dem von Siegfried oder Wieland auch gänzlich unmythische Stoffe wie etwa Hildebrandt oder die Vernichtung der Burgunder vorkommen, so daß die Betrachtung der ältesten Stoffe keinen Hinweis auf ein besonderes Vorkommen von mythologischem Repertoire liefern, der bei einer dualen Entstehung aus übernatürlichen und historischen Motiven doch unbedingt zu erwarten wäre.
Heusler gelangt zu dem Schluß, daß bei den Dichtern der Heldensagen vier Quellen vorhanden gewesen sein: historische Stoffe, eigenes Erleben, eigene Erfindung und vorhandenes Erzählgut. Dabei sei kein Unterschied zwischen den Schöpfern einer Dichtung und späteren Umdichtern.
Der mythische Hintergrund der Heldensage (Jan de Vries)
Das Wesen des Mythos
Es handelt sich bei dem Mythos um mehr als nur um bloße Erzählungen von Taten oder Erlebnissen von Göttern. Der Mythos steht in einer Verbindung zum Ritus. Dieser Ritus wiederholt Handlungen aus der Urzeit: in Initiationsriten wird der Kampf zwischen Gott und Chaosungeheuer von neuem verwirklicht. Ebenso das Tieropfer: es ist kein Geschenk an die Götter, sondern vertritt ein Wesen, daß in der Urzeit einmal getötet worden ist, um den Menchen Heil zu bringen.
Das Essen und Trinken ist nichts selbstverständliches, denn Tiere müssen getötet und Pflanzen geschnitten werden, um sie zu essen, Das Leben des Menschen ist mit der Sünde des Tötens belastet, und der Mensch ist sich dessen bewußt Der Mythos dient dazu, die Erinnerung daran zu bewahren, damit im Ritus die segensreiche Wirkung erhalten bleibt.
Die Eingeborenen von Ceram legitimieren das Ernten von Knollenfrüchten damit, daß ein weibliches Wesen namens Hainuwele einmal durch eine rituelle Handlung getötet und ihr Körper zerschnitten und die Stücke im Boden vergraben worden seien. Daraus sind dann die Knollengewächse entstanden. Auch die Worte Jesu beim Brechen des Brotes beim Abendmahl hoc est corpus meum sollen darauf verweisen. Dabei ist zu beachten, daß Ritus und Mythos nicht in einer genealogischen Beziehung zueinander stehen, etwa in der Art, daß der Mythos den Ritus begleitet – Mythos und Ritus verursachen gemeinsam, daß das Geschehen der Urzeit wieder erlebbar wird.
Heldensage und Mythos
In der Heldensage ist nun der Mythos vom Ritus abgetrennt, er ist nur noch Erzählung. Um die Verbindung vom Mythos zur Heldensage zu erklären, muß erst definiert werden, was ein Heros ist: er ist nicht nur ein sehr tapferer Mensch, sondern jemand, der eine besondere Eigenschaft besitzt, die ihn aus der Masse der Toten herausheben. Diese Eigenschaft ist seine Funktion als Träger einer ideellen Essenz, die nur ihm zueigen und der eigentliche Gegenstand der Verehrung ist. So wurde beispielsweise Agamemnon in Sparta als Zeus Agamemnon verehrt – das Objekt der Huldigung war nicht Agamemnon, sondern Zeus. In Griechenland fanden sich viele Beispiele für die Verehrung von Heroen; einigen wurden Tempel errichtet, und es kam zu einer Reliquienverehrung, wie man sie aus dem Christentum kennt. Allerdings scheinen viele dieser Helden ehemals Götter gewesen zu sein, die dann sekundär heroisiert wurden. De Vries führt einige Beispiele an, wie sich etwa die Namen von Agamemnon und Achill in Götternamen auflösen lassen. Es bleibt aber immer ein Unterschied zwischen Held und Gott: der Held ist tot. Er hat zu Lebzeiten besondere Taten vollbracht oder großes Leid getragen und wird nach seinem Tod verehrt wie ein Heiliger, der sich im Leben durch Wundertaten zu erkennen gegeben hat und dann nach seinem Tode Huldigungen erfährt.
Die Heroen im christlichen Westeuropa
In Westeuropa sind sie Spuren eines heroischen Kultes durch das Christentum marginalisiert worden. Eine Verehrung des Helden kann nur als Heiligenverehrung stattfinden. Tatsächlich findet sich ein solcher Kult besonders um die Gestalten des Rolandliedes, das die Vernichtung der Nachhut des karolingischen Heeres nach Abschluß der Kämpfe Karls in Spanien 778 zum Inhalt hat. Diese wurden als Soldaten Christi, als Verteidiger des christlichen Glaubens interpretiert. Analog zur Verehrung von Gräbern von Heroen in Griechenland rühmten sich Klöster und Kirchen, die Gebeine zu beherbergen. Insbesondere Karls Paladin Roland soll von Karl selbst in der Kirche zu Blaye begraben worden sein. Angeblich hat er auch dort das Horn Olifant niederlegen lassen, welches aber später von Geistlichen gestohlen worden sein soll. Desweiteren berichtet eine Legende, daß Karl in Belin in der Nähe von Bordeaux ein Grab hat anlegen lassen, in dem innere Märtyrer begraben wurden. Angeblich verbreitet sich aus diesem Grab ein süßer Duft, der Kranke heilen soll. Selbst Karl wurde zum Gegenstand eines solchen Kultes: man erzählte sich gegen Ende des 11. Jahrhunderts, daß er auferstehen solle, um das Heilige Grab von den Heiden zu befreien. Außerdem wurden die Helden Gegenstand eines Kultes um Reliquien, da ja nicht jeder den Körper haben konnte.
In Deutschland gibt es derartige Beispiele nicht. Zwar existierten auch Erinnerungen an Helden, deren angebliche Gräber oder Orte ihres Schaffens lokalisiert waren, aber zu einer Übertragung in christliche Legenden kam es nicht. Dennoch, daß in Kirchen und Klöstern Helden verehrt wurden, zeigt, daß der Klerus keine grundsätzlichen Bedenken hatte. Eine etwas kuriose Geschichte überliefert Alcuin, der einen Abt von Lindisfarne rügt, weil er im Refektorium Heldenlieder vorlesen ließ. Ebenso wird in einer deutschen Quelle ein Kleriker aus Bamberg wegen desssen Vorliebe für Heldenlieder von seinem Vorgesetzten getadelt.
Für das noch heidnische Schweden hat Otto Höfler einmal versucht, anhand des Runensteines von Rök eine Art Theoderich-Kult zu erschließen. Der Rökstein ist vor 800 in Schweden entstanden und enthält 775 Zeichen und ist damit die längste bekannte Runeninschrift. Da der Stein zahlreiche Zeichen in Geheimschriften und abweichenden Runenalphabeten enthält, ist er nur zu einem kleinen Teil problemlos zu entziffern. Der Name Thor scheint des öfteren vorzukommen, daher die Annahme, daß man sich noch auf heidnischem Boden befindet. Soweit die Inschrift lesbar ist, kann man ihr entnehmen, daß sie von einem Vater seinem toten Sohn Væmoðr geweiht worden ist. Außerdem enthält der Stein eine Strophe des Theoderich-Kreises, die ansonsten unbekannt ist. In ihr heißt es:
Es herrschte/ritt Theoderich, der kühngemute,
der Fürst der Krieger, über den Strand des Hreidmeeres.
Jetzt sitzt er gerüstet auf seinem gotischen Roß,
den Schild auf der Schulter, der Held der Märinge.
Höfler versuchte in einer umfangreichen Studie nachzuweisen, daß der Vater von Væmoðr einen Rächer für seinen toten Sohn gezeugt habe und diesen Theoderich weihte, um ihn zur Rache tauglich zu machen. Theoderich habe dabei die Stelle Odins als Heerführer eingenommen. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, daß sich die Strophe auf ein Reiterstandbild Theoderichs bezieht, das Karl der Große nach Aachen hatte bringen lassen.
Franz Rolf Schröder: Mythos und Heldensage
Schröder versteht unter Mythos eine Erzählung, die entweder räumlich in der Sphäre der Götter spielt oder deren Handlung überwiegend von Göttern getragen wird. In seinem Aufsatz geht es ihm darum, die von Heusler mit Nachdruck vertretene Betrachtung der Heldensage als bloßes dichtungsgeschichtliches Phänomen einer Korrektur zu unterziehen. Zunächst verweist er auf die Heldendichtung anderer Völker bis hin zur sumerisch-akkadischen Epik, auf indische Dichtungen, auf das persische Epos Schahname von Firdusi, auf Homer und Vergil und noch einige andere, in denen in archaischer Weise der Zauberer herrsche, während das Heroische erst zaghaft zu erkennen sei. Allein deshalb seien es befremdlich, wenn die germanischen Verhältnisse anders sein sollten. Zwar gesteht er zu, daß in der Sage von den Burgundern keinerlei mythische Motive zu finden sein und das christliche Züge der deutschen Fassung lediglich sekundär hinzugefügt seien. Auch im Hildebrandslied wird einmal Gott angerufen, aber dieser entfaltet keine Wirkung. Die Handlung folgt der Logik eines Ehrgefühls, nicht dem Diktum einer höheren Moral. Schröder möchte, darin de Vries folgend, im Hildebrandslied einen uralten Mythos vom Vater-Sohn-Kampf sehen, wie er auch in anderen Völkern vorhanden sei. Die weltliche Logik, welche die Handlung antreibt, sei lediglich eine sekundäre Sinngebung eines Liedes, daß seinen eigentlichen Sinn längst verloren hat. Den Wieland-Stoff hält er überhaupt nicht für eine Heldensage, sondern für ein Göttermythos, daß im Deutschen lediglich durch die Verknüpfung einer historischen Gestalt, des ostgotischen Königs Witege/Widigoja als Sohn Wielands sekundär zur Heldensage gemacht worden sei. Besonders bemerkenswert scheint ihm, daß mehrere nordische und andere germanische Königsgeschlechter ihre Stammbäume auf einen Gott zurückführen. Auf diese Weise wurde Mythos und Geschichte zum Zwecke der Legitimation miteinander verbunden. Dies sei ein tief verwurzelter Glaube gewesen.
Jede einzelne Sage sei nun darauf zu untersuchen, inwieweit Mythen als stoffliche Grundlage in Frage kommen. Dabei seien drei Schichten zu untersuchen:
- eine mythisch-kultische Schicht,
- eine historische Schicht,
- eine jüngste Schicht, die aus mittelalterlichem Erzählgut geschöpft habe.
Die Nibelungensage bietet für die zwei ersten Schichten ein klassisches Beispiel: der Burgunderstoff bezeugt die historische Schicht, der ursprünglich selbständige Sagenkreis um Siegfried/Sigurd ist die mythisch-kultische Schicht. Nach Schröder bilden drei Sagen den Grundbestand des Sigurd-Stoffes: seine Jugend, die Erziehung durch den Schmied und der Drachenkampf zum einen; die Erweckung der schlafenden Jungfrau auf dem Hindarfjall zum zweiten und der Tod des jugendlichen Helden. Auszuscheiden sei dagegen die Geschichte von der Werbung und die Brautfahrt von Gunnar zu Brünhild. Diese verknüpfen lediglich den Sigurd-Stoff mit dem Burgunderstpff und sind daher als jünger einzuordnen. Dem Nibelungenhort billigt er den Status eines historischen Faktums zu, das aber dem Burgunderstoff zugehörig ist.
Den Sigurd-Stoff hält er für wesentlich archaischer als die Erzählungen um die Burgunder. Zwar hält er Sigurd im Grunde genommen wohl für historisch, aber dieser sei nach einem Archetyp umgeformt worden, der in der Götterwelt zu suchen sei. Er sei der Göttersohn, der für viele Heroen in aller Welt das Vorbild abgegeben hat. Um dies zu begründen, holt Schröder weit in die Religionsgeschichte aus. Er rekonstruiert für die Urzeit verschiedener Völker, vor allem der Semiten und Indogermanen, einen dualen Glauben an den Himmelsgott und die Erdgöttin. Beide mußten zusammenwirken, damit z.B. die Saat gedieh: Sonne und Regen mußten die Erde der fruchtbar machen. Solche Vorstellungen weist er dann über die Griechen bis in das Mittelalter nach: ein englischer Segen lautet: Heil dir, Erde, Mutter der Menschen! Sei du grünend in Gottes Umarmung, mit Futter gefüllt, den Menschen zu frommen.
In christlichen Hymnen seien gelegentlich Gott und die Jungfrau Maria damit identifiziert worden. Dieser duale Glaube führt in der Konsequenz zu einer Trinität: der Himmelsgott, der die Erdgöttin befruchtet, wird Vater eines Sohnes. Diese Vorstellung will er schon in der ältesten Phase menschlicher Landwirtschaft realisiert sehen: im präkeramischen Neolithikum in Jericho habe man Figurengruppen gefunden, die genau diese Trinität darstellten und damit auf einen Kult mit Ritualen und Heiligtümern schließen ließen.
Nun sei zu beobachten, daß der Himmelsgott und die Erdgöttin selten direkt handelnd eingreifen, vielmehr bleibt das Wirken unter den Menschen dem Sohn vorbehalten. Dieser Sohn vereinigt in sich die Eigenschaften beider Eltern. Diese Polarität zwischen männlichem Himmelsgott und weiblicher Erdgöttin wird häufig in der Form eines Zwitters dargestellt. Neben orientalischen Belegen findet sich so etwas auch im Germanischen: Tacitus berichtet in der Germania über einen Gott namens Tuisto, der der mythische Stammvater der Germanen sei. Dieser Tuisto ist ein erdgeborener Zwitter, dessen Name vermutlich auch Zwitter bedeutet. Er dürfte mit Ymir verwandt sein, jener Urriese, der in der nordischen Kosmogonie durch Autogamie seine Nachkommen zeugt. Dieser androgyne Göttersohn spaltet sich aber wieder auf, indem sich seine weibliche Komponente absondert: das nordische Equivalent dazu bilden die Wanen. Njörðr zeugt mit seiner Schwester Freyr und Freyja, die wohl auch zeitweise verheiratet sind. In diese Reihe soll jetzt auch die Geschichte von der Erweckung der Jungfrau auf dem Hindarfjall eingepaßt werden. Diese wird rudimentär im Fáfnismál und vor allem in der Sigrdrífomál überliefert. Es geht dabei um die Walküre Sigrdrifa, die bei einem Kampf zwischen den zwei Königen, Hialmgunnar und Agnar, dem Agnar beisteht, obwohl Odin Hialmgunnar den Sieg versprochen hat. Zur Strafe sticht Odin Sigrdrifa mit einem Schlafdorn und bestimmt, daß sie nie wieder einen Sieg erringen, sondern sich vermählen soll. Sie aber legt ein Gelübde ab, daß sie keinen Mann heiraten wolle, der sie fürchtet. Als Sigurd eines Tages nach Hindarfjall ritt, sieht der auf einem Berg ein Licht. Als er auf diesem Berg angekommen war, sieht er dort einen Mann in voller Rüstung schlafen. Als er diesem Mann den Helm abnimmt, bemerkt er, daß es sich um eine Frau handelt. Da nimmt er sein Schwert Gram und zerschneidet die Brünne. Die Frau wacht auf und gibt sich als Sigrdrifa zu erkennen. Darauf hin bittet Sigurd sie, ihm Weisheit zu lehren, woraufhin Sigrdrifa einige Kostproben ihres Wissens vorführt. Das Lied endet damit, daß sich beide gegenseitig die Ehe versprechen.
Die Polarität des Göttersohnes geht aber noch weiter. Das Jahr hat seine helle und seine dunkle Seite. Auch diese beiden Seiten hat der Göttersohn ursprünglich in sich vereinigt. Hier kommt es auch zu einer Teilung: er behält die helle Seite, während die dunkle auf einen Dämon übergeht. Der Göttersohn repräsentiert die helle Seite: ein frühreifer Knabe, der alle feindlichen Elemente überwindet, bis ihn ein dunkler Dämon tötet. Dieser Winterdämon, der den Sommer vertreibt, oder aber in südlicheren Ländern der Dämon der Hitze, der alle Vegetation versengt. Dieser sterbende Gott ist kein Widerspruch in sich, denn sein Tod ist zumeist nicht unwiderruflich. Meistens handelt es sich bei den sterbenden Göttern um solche der Fruchtbarkeit und des Wachstums, es sei denn, es handelt sich um apokalyptische Szenarien wie in der Völuspá. Endgültig sterben nur Menschen, und mit ihnen auch die Helden der späteren Zeit. Aus den ehemaligen Göttersöhnen sind Menschen geworden. Dies ist der Archetyp, nach welchen die Helden der heroischen Zeit gestaltet werden: Achill, Siegfried und auch Roland. Bei Sigurd kommt noch ein zweites mythisches Motiv hinzu: der Drachenkampf. Wie schon de Vries sieht er hier das Motiv des Kampfes des Gottes gegen das Chaosungeheuer dargestellt.
Klaus von See: Mythos und Heldensage
Mit Klaus von See soll zum Schluß noch ein harscher Kritiker der Mythostheorien, wie sie Höfler, de Vries und Schröder vertreten, zu Worte kommen. Er geht exemplarisch von der Ingeldsage aus, die im Beowulf-Epos und rudimentär auch in einem altenglischen Epos namens Widsith überliefert wird. In ihr wird erzählt, wie der Hadebarde Ingeld die Tochter des Dänenkönigs Hrodgar heiratet, nachdem sein Vater im Kampf mit den Dänen gefallen ist. Mit dieser Heirat soll der Frieden gesichert werden. Aber schon beim Festmahl bricht der Streit wieder auf: aufgestachelt von einem seiner Kämpen entstellt Ingeld einen Dänen, der mit dem erbeuteten Schwert seines Vaters die Königshalle durchschreitet. Ingeld verstößt seine Frau und zieht erneut gegen die Dänen zu Felde. Zwar gelingt es ihm, die Halle von Hrodgar in Brand zu setzen, aber die Hadebarden werden erneut geschlagen und Ingeld fällt. Diese Heldensage schildert den Konflikt zwischen der Vernunft, die doch den Erhalt des jungen Friedens gebot und der verletzten Ehre, der schließlich zugunsten letzterer entschieden wird. Nach von See entstammt eine solche Fabel wahrscheinlich einem Heldenlied, wie es Heusler als Grundlage der Heldensagen annahm: wenige Szenen, schneller Wechsel der Rede und keine biographische Entfaltung des Helden, dessen Existenz in einer einzigen Tat kulminiert. Der mythische Held hingegen beweist seine außergewöhnliche Kraft in mehreren Taten. Dies entspräche mehr einem Aufreihlied in dem in kurzer Folge mehrere Taten aneinandergereiht werden, wie es in antiken Epen mehrfach belegt ist. Zwar finden sich solche Aufreihungen auch in der Skaldendichtung, so zum Beispiel in einem Vers des Skalden Vetrliði, in dem er Thor beschreibt:
Die Schenkel brachst du der Leikn,
lähmtest Thrivaldi,
stürztest Starkad,
standst über Gjölp, der toten.
von See ist der Meinung, daß dieser Vers gänzlich unepisch ist und damit auch als Vorlage für Heldendichtung in Frage kommt. Zwar gibt es auch in der altnordischen Literatur Katalogdichtungen, die eine Vielzahl von Personen in wenigen Versen abhandeln, dabei handelt es sich aber meist nicht um die Aufzählung heroischer Taten. Auch das Nebeneinander von Heldenliedern und Götterliedern in der Edda sei kein Hinweis auf eine ursprüngliche Verwandtschaft, vielmehr habe sich die Form des Götterliedes erst nach der Loslösung der Kulte von den Stätten des Mutterlandes während der Expansion unter dem Einfluß der Heldenlieder entwickelt. Wenn der mythische Gehalt dadurch mit mehr Psychologie versehen wird, so bleiben die Fabeln doch andere. Das Thor in der Þrymskviða seinen gestohlenen Hammer als Braut in Frauenkleidern zurückholt, ist in der Tat gänzlich unheroisch.
Eine Motivvergleichung wie bei de Vries und Schröder lehnt von See ab, da viele Heldensagenmotive wie etwa das vom Vater-Sohn-Kampf ja in anderen Sprachen ebenfalls nur als Heldensagen vorliegen. Wenn de Vries die Fabel des Hildebrandsliedes als Rest eines indogermanischen Mythos nachweisen will, so sind seine persischen, russischen und irischen Belege doch wieder alles Heldensagen.
Ebenso untaugliche Zeugnisse sind die Heldensagen, wo direkt mythische Motive auftauchen. Seiner Beobachtung nach nehmen die mythischen Motive im Laufe der Zeit zu, so daß er eine Tendenz zur nachträglichen Mythisierung postulieren möchte. Auch zwei Totenpreislieder, Eiríksmál und Hákonarmál, die den Einzug eines toten Königs in Walhall schildern, können keine alten Traditionen sein, denn die Walhallvorstellung sei erst im 8.–10. Jahrhundert entwickelt worden.
Was die Entstehung einer Heldensage aus dem Mythos durch Entmythisierung der Handlung betrifft, so zitiert er einen Fall, den er neben einigen möglichen anderen für einen sicheren Vertreter dieser Gattung hält: die im Beowulf-Epos erwähnte Fabel von Hæðcyn und Herebeald. In ihr erzählt Beowulf kurz vor, seinem Tod vom Schicksal seines Großvaters Hreðel, dessen Sohn Hæðcyn beim Bogenschießen das Ziel verfehlte und seinen Bruder Herebeald tödlich traf. Hier ist nicht nur in der Handlung die Parallele zum Baldr-Mythos offensichtlich, sondern es findet sich eine deutliche Parallele in den Personennamen: Hæðcyn ist in der ersten Silbe identisch mit Höðr, dem blinden Bruder Baldrs, der von Loki mit dem Mistelzweig hereingelegt wurde. Und der Name Herebeald enthält Baldr schlicht als zweiten Bestandteil. Hier sind die meist eingliedrigen Namen der Götter durch die meist aus zwei Bestandteilen bestehenden Personennamen ersetzt worden. Da die Fabel mit sechs Zeilen sehr knapp gehalten ist, möchte von See ihr allerdings keine große Bedeutung bei der Entwicklung der Heldensage zubilligen. Seiner Ansicht nach handelt es sich um eine spielerische Angleichung an den Baldr-Mythos.
Von See kommt zu dem Schluß, daß sich seit dem 9. Jahrhundert an den Höfen in Norwegen und auf den britischen Inseln eine elaborierte Dichtkunst entwickelt hat, die die Mythen- und Heldensagentradition gleichermaßen genutzt hat. Eine zu beobachtende Vermehrung religiöser Metaphern in der Skaldendichtung des 10. Jahrhunderts läßt nicht auf eine Erstarkung des heidnischen religiösen Lebens schließen,sondern vielmehr auf die Unverbindlichkeit dieser Metaphorik. Nachdem diese Dichtung eine solche Blüte erlebt hatte, konnte ihr auch das grassierende Christentumm nichts mehr anhaben. Ganz im Gegenteil: die Portale mehrerer Stabkirchen sind mit Motiven der Heldensagen verziert. Saxo Grammaticus stattet seine Geschichte der Dänen nicht mit einem falschen christlichen Hintergrund aus, sondern schildert die Vorzeit unter Verwendung heidnischer Motive – und das, obwohl er am Hof des Bischofs Absalon schrieb.
Heusler, Andreas: Geschichtliches und Mythisches in der germanischen Heldensage. In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Jg. 1909, S. 920–945.
Höfler, Otto: Siegfried, Arminius und der Nibelungenhort. Wien 1978. (=Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte. 332)
Marold, Edith: Wandel und Konstanz in der Darstellung der Figur des Dietrich von Bern. Aus: Beck, Heinrich (Hrsg.): Heldensage und Heldendichtung im Germanischen. Berlin, New York 1988. (=Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2) S. 149–182.
Schröder, Franz Rolf: Mythos und Heldensage. Aus: Hauck, Karl (Hrsg.): Zur Germanisch-deutschen Heldensage. Darmstadt 1965. (=Wege der Forschung. 14) S. 285-315.
von See, Klaus: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Frankfurt/Main 1971.
de Vries, Jan: Betrachtungen zum Märchen, besonders seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos. Helsinki 1954. (=Folklore Fellows Communications. 150)
de Vries, Jan: Heldenlied und Heldensage. Bern, München 1961. (=Sammlung Dalp. 1961)
Wikander, Stig: Brávellir und Kurukshetra. Heldendichtung als Reflex germanischer und indo-iranischer Mythologie. Aus: von See, Klaus (Hrsg.): Europäische Heldendichtung. Darmstadt 1978 (=Wege der Forschung. 500) S. 61-74.