Besprechung ‘Schicksalsmomente der Schachgeschichte’
Das kritikwürdigste an diesem zur Besprechung stehenden Buch 1 von Michael Ehn und Hugo Kastner ist der offenbar marketinggetriebene Titel. Schicksalsmomente der Schachgeschichte. Dramatische Entscheidungen und historische Wendepunkte trifft die Sache nicht wirklich gut. Im Grunde räumen die Autoren im Vorwort auch ein, daß sie einem solchen Schema nicht folgen wollen – und sie tuen gut daran. In der Militär-, Wirtschafts- oder Politikgeschichte gibt es sicherlich immer wieder dramatische Situationen, in denen historische Verläufe am seidenen Faden hängen. Die Schachgeschichte gehört aber in systematischer Hinsicht wohl eher zur Bildungs- und Ideengeschichte, wo die Entwicklungen tendenziell gemächlich verlaufen, selbst wenn einige hervorragende Geister besonders große Sprünge verantworten. Wirklich dramatische Augenblicke sind eigentlich nur individuellen Biographien vorbehalten. Daß Carl Schlechter in der letzten Partien des Weltmeisterschaftsmatches 1910 beim Stande von 1:0 für ihn eine relativ einfache Remismöglichkeit übersah und dann die Partie verlor und nicht Weltmeister wurde, ist vermutlich der berühmteste.
Der ebenso enorm belesene wie fleißige Wiener Schachhistoriker Ehn bürgt für die inhaltliche Qualität des vorliegenden Werks. Alle 64 Kapitel, die im Umfang weniger Seiten wichtige schachhistorische Ereignisse beginnend mit einer arabischen Endspielstudie des 10. Jahrhunderts bis zu Magnus Carlsen, sind mit Literaturangaben – gegebenenfalls auch nichtschachlicher Natur – ausgestattet. Sie sind insoweit abgeschlossen formuliert, daß man sie nicht unbedingt der Reihe nach lesen muß. Die Auswahl ist recht gelungen, den neben den unvermeidlichen Phänomenen der Schachgeschichte wie Paul Morphy, Bobby Fischer oder dem Wettkampf Kasparows gegen Deep Blue, über die es kaum noch etwas zu sagen gibt, was nicht schon zigfach niedergeschrieben worden wäre, werden auch Nischenthemen wie einige wirklich verblüffende Schachprobleme behandelt. Rudolf Charousek findet vor allem deshalb Interesse, weil er in einem Bestseller als Romanfigur verewigt worden ist.
Inhaltlich zu kritisieren gibt es wenig. Etwas überraschend finde ich die Aussage im Vorwort, daß sich das Schachspiel im 6. nachchristlichen Jahrhundert aus indischen Protoformen in Persien entwickelt hätte. Es gibt aus diesem Zeithorizont weder archäologische noch philologische Quellen, anhand derer man eine so detaillierte Aussage treffen könnte. Zumal die Abgrenzung von Protoformen und richtigem
Schach selbst dann noch begrifflich schwierig wäre. Sind etwa die ostasiatischen Entwicklungen, die sich vom heutigen Standardschach mitunter recht stark unterscheiden, kein richtiges
Schach, sondern nur Proto- oder Paraformen? Etwas oberflächlich finde ich auch die Schilderung des Polgar-Experiments der geplanten Erziehung zum Genie. Mal ganz davon abgesehen, daß es eigentlich nur den Versuchsaufbau des Mozart-Experiments aus dem 18. Jahrhundert wiederholt und damit keineswegs sonderlich originell ist, kann man die Frage, ob es bei Frauen psychobiologische Hemnisse in der Spielstärkeentwicklung gibt, so auch kaum beantworten. Letztlich gehen der Entwicklung zum Weltklassespieler immer zahlreiche günstige biographische Entscheidungen voraus, aus denen sich der steuernde Effekt grundlegender biologischer Parameter kaum noch herausrechnen läßt. Magnus Carlsen hat als Fünfjähriger, als die Polgar-Schwestern schon jeweils drei Jahre intensives Schachtraining erfahren hatten, das ihm von seinen Eltern angebotene Schachspiel noch abgelehnt und erst als Neunjähriger richtig damit begonnen. Trotzdem wurde er Weltmeister und Judit Polgar nicht. Wenn man allerdings daran denkt, wieviele auch hochmotivierte und kompetent trainierte Männer nie Judits Spielstärke erreicht haben, ist das Argument, Carlsen sei als Mann biologisch bevorteilt, ein reichlich schwaches. Sozio- oder psychobiologische Erklärungsmodelle wie das von Ilja Zagaratski, daß Männer tendenziell riskantere Lebensstile wählen als Frauen, können vieleicht erklären, warum mehr Männer als Frauen bereit sind, das erhebliche wirtschaftliche Risiko einer professionellen Schachkarierre einzugehen – obwohl ich mich dann schon frage, warum es doppelt soviele weibliche wie männliche Opernsänger gibt? – aber sie erklären nicht, warum manche individuellen Biographien so viel erfolgreicher sind als andere. Insofern erklärt auch die Aufzucht einzelner Genies hier nichts. Die bei Ehn und Kastner angesprochenen ethischen Bedenken haben sich übrigens nicht realisiert. Keine von den dreien wirkt bei öffentlichen Auftritten psychisch auffällig, alle haben Familien gegründet und das Turnierschach aufgegeben, wobei Judits Rücktritt bei Redaktionsschluß noch nicht bekannt war.
Diese Kritikpunkte mindern aber den hervorragenden Gesamteindruck nicht. Ich empfehle das Buch vorbehaltlos.
Anmerkungen
1Michael Ehn, Hugo Kastner: Schicksalmomente der Schachgeschichte. Dramatische Entscheidungen und historische Wendepunkte. Hannover: humboldt, 2014. 272 S. ISBN 9783869102061.