Der Archimedes-Code (Ausstellung)
Der Ausstellungstitel ist doppeldeutig, denn er bezieht sich nicht nur auf den Codex, sondern sicherlich auch auf die erheblichen technischen Anteile der Ausstellung. Neben den schwierigen konservatorischen Problemen musste man den abgeschabten Text mit Hilfe bildgebender Verfahren wieder sichtbar machen, weswegen es sich nicht nur um altphilologisches und wissenschaftsgeschichtliches Forschungsprojekt handelt, sondern auch um ein naturwissenschaftliches und computertechnisches im Bereich der bildgebenden Verfahren. Hier liegt aber auch die Crux der Ausstellung, denn die thematischen Anteile, die auch für Laien visuell leicht erfassbare Exponate liefern, sind recht begrenzt, da die Archäologie, die für so etwas meist zuständig ist, hier kaum eine Rolle spielt. Dementsprechend ist die Ausstellung sehr textlastig. Archimedes kann man in reizvollen bedienbaren Holzmodellen zur Zielberechnung von Katapultgeschossen, zur Archimedischen Schraube zur Überwindung von Höhenunterschieden bei Wasserleitungen, zum Flaschenzug und einer Art Tangram-Puzzle kennenlernen, aber die Texttafeln zur Mathematikgeschichte verlangen schon einiges an Geduld an Konzentration. Hier hätte man besser dynamische Visualisierungen benutzt. Nehmen wir einmal als Beispiel die Darstellung von Brüchen in Ägypten, wo man in Unkenntnis der Dezimalbrüche Summen von Stammbrüchen (solche mit dem Zähler 1) verwendete. Die Umrechnung ist grundsätzlich ganz einfach, wenn man das Prinzip einmal verstanden hat. Man sucht aus einem Dezimalbruch den größten Stammbruch und subtrahiert ihn und beginnt mit dem verbleibenden Rest diese Prozedur erneut, solange, bis der Rest selbst ein Stammbruch ist. Denn jeweiligen Stammbruchnenner findet man dabei, in dem man den Nenner durch den Zähler teilt und zur nächsten Ganzzahl aufrundet. Verstanden? Probieren Sie es aus:
Zugegebenermaßen nur eine Spielerei und nicht sehr beeindruckend, aber selbst ein solcher schneller Hack
verbessert die Erfassbarkeit schon beträchtlich. Soweit es sich um elementare Zusammenhänge handelt, ist so etwas mit heutigen Programmierbibliotheken (hier nur ein handelsüblicher Webbrowser und das JavaScript-Framework jQuery) schnell erledigt. Wir befinden uns schließlich nicht mehr in den Kindertagen der Informationstechnik, wo man alles noch Pixel für Pixel zeichnen musste. Realiter ist die Sache übrigens insoweit komplexer, als es bevorzugte Nenner gab. Auf der Webseite von Arndt Brünner findet man ein viel ausgefeilteres Skript, mit dem man bevorzugte Stammbruchreihen berechnen kann.
Zu der Ausstellung gibt es keinen Katalog – es gäbe auch nicht viel zu katalogisieren – aber es gibt ein populärwissenschaftliches Buch von dem Kurator William Noel und dem Altphilologen Reviel Netz, 1 die jeweils alternierend Kapitel zur Entdeckung und Erforschung des Codex und zur archimedischen Wissenschaft bieten. Das ist sehr spannend zu lesen, insbesondere Netz muß man für seine verständlichen Darstellungen antiker Mathematik sehr loben. Einzig die Strichzeichnungen muß man kritisiseren, denn mit gepunkteten und gestrichelten Linien hätten selbst im Monochromdruck einige Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden.
Anmerkungen
1Reviel Netz und William Noel: Der Kodex des Archimedes. Das berühmteste Palimpsest der Welt wird entschlüsselt. Aus dem Amerikanischen übers. von Thomas Filk. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. 303 S. ISBN: 9783423345798.