Esoterik in der Rochade Europa
Das Elend mit der Rochade
Die Zeitschrift Rochade Europa genießt unter Schachspielern einen etwas zweifelhaften Ruf. Sie druckt alles ab, was reinkommt und hat ein dramatisch schlechtes Layout. Andererseits hat sie wegen ihrer billigen Produktionsweise konkurrenzlos viel Platz, weswegen umfangreiche Berichte von Amateurturnieren, aber auch Abhandlungen von Nischenexistenzen wie Sammlern oder Problemisten praktisch nur hier erscheinen können. Ursprünglich diente sie als Verkündungsorgan der Landesverbände, aber diese Rolle hat sie teilweise an die Schachzeitung verloren, die zwar ein ordentliches Layout hat, aber ansonsten das Kunststück fertigbringt, in ihrem traditionellen Kern inhaltlich noch schlechter zu sein als die Rochade. Daneben dürfte auch das Internet das Konzept des Allesdruckens mittlerweile weniger attraktiv erscheinen lassen. Jörg Seidel hat 2003 eine umfangreiche Besprechung des Elends mit der Rochade vorgenommmen, der ich mich vorbehaltlos anschließe. Dort tummeln sich kompetenzarme Selbstdarsteller als regelmäßige Autoren, die ihre publizistischen Fähigkeiten offenbar dramatisch überschätzen – wobei Seidels Hinweis, daß dieselben Leute in anderen Kontexten durchaus angenehm und verdienstvoll sein können, unbedingt ernst zu nehmen ist. Seiner und auch anderer Leute Erfahrung nach ist es übrigens völlig sinnlos, sich beim Herausgeber zu beschweren.
Ein irgendwie philosophischer Artikel
In der Dezemberausgabe 2013 erschien nun ein Artikel mit dem Titel Das Quadrat ist im Schachspiel der Hinweis für die Spielgesetze von einem mir bis daher unbekannten Autor namens Patrik Roth aus München. 1 Ich vermutete einen Beitrag über irgendeine längst überkommene Theorie aus älterer Literatur, denn solche Beiträge machen ja gerne mal mit kryptischen Zitaten oder Paraphrasen auf. Wessen ich dann aber gewahr wurde, ist ein hanebüchener Unsinn, den man selbst in der Rochade nicht alle Tage liest.
Offen gestanden kann ich mit dem Begriff Spielgesetze
nichts anfangen, und auch Google ist hier nicht mein Freund. Das versteht darunter nämlich zumeist staatliche Glücksspielverbote. Auch eine Suche nach Spielgesetz Philosophie liefert nur einige marginale Treffer, die nicht darauf hindeuten, daß mir hier ein Grundlagenbegriff entgangen sei (was an sich durchaus möglich ist). Am ehesten scheint es mir eine allzu wörtliche Übersetzung des lateinischen Begriffs leges ludi Spielregeln
zu sein. Gemeint sind jedoch offenbar die Gesetzmäßigkeiten guter Züge. Das hätte man aber auch weniger schwülstig ausdrücken können. Angesichts der taktischen Schärfe des Schachspiels ist eigentlich hinlänglich klar, daß es nicht bloß allgemeiner Prinzipien, sondern in hohem Maße auch scharfer Berechnung bedarf, um gute von schlechten Zügen zu diskriminieren, schließlich gibt es Stellungen mit wechselseitigen Mattdrohungen, bei denen nur das Zugrecht entscheidet. Aber das ficht den Autor nicht an:
Diese Gesetze finden sich in der Natur des Universums (z.B. Der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts und das Betragsquadrat), sie spiegeln sich in der buddhistisch, hinduistischen Religion und hermetischen Philosophie und als spielerischer Ausdruck finden sich diese Gesetze im Schachspiel
Alle Fehler inklusive des fehlenden Punktes am Schluß finden sich im Original. Ich habe an dieser Stelle erst mal nachgesehen, ob dies die Fortsetzung eines früheren Beitrages ist, wie der Beginn mit einem Demonstrativpronomen unbedingt nahelegt. Aber darauf findet sich kein Hinweis. Und der durchschnittliche Rochadeleser weiß sicher mehr mit Hermetik anzufangen als ich – es handelt sich nicht etwa um eine philosophische Richtung, sondern um eine okkulte Geheimlehre der Spätantike, die in der frühen Neuzeit einer gewissen Beliebtheit erfreute, aber im Grunde schon seit über 300 Jahren nicht mehr ernsthaft diskutiert wird, da sich Hellsehen und Alchemie in den Augen der rationalen Wissenschaften schon ziemlich früh als dysfunktional herausgestellt haben. Anscheinend gibt es in esoterischen Zirkeln aber wieder Anhänger.
Bereits im zweiten Absatz werden wir belehrt, daß aus dem Wesen des Quadrates folgt, daß alles, was gut ist, irgendwie dual sein muß:
Führe Deine Steine so, so daß diese harmonisch zueinander (voneinander direkt oder indirekt geschützt stehen) und harmonisch im Raum stehen (gute Wirkung auf wichtigem Feld bzw. Feldern und auf gegnerische Steine).
und
Führe Deine Steine so, so dass 2 richtige Ziele zugleich verfolgt werden.Führe Deine Steine so, so dass eine duale Wirkungskraft erzeugt wird.
(Hervorhebungen im Original). Ja, so einfach ist Schach: Einfach keine Fehler machen – daß ich da nicht schon früher drauf gekommen bin! Wie kann ich denn herausfinden, wann Figuren harmonisch zueinander
stehen und was eine gute Wirkung
auf wichtige Felder
ist? Das ist doch gerade die Preisfrage, die über Erfolg und Mißerfolg entscheidet. Nebenbei kann man an der Neigung, zentrale Aussagen durch Schriftauszeichnungen hervorzuheben, überforderte Autoren sogar ohne Durchlesen erkennen, denn diese Technik haben nur diejenigen nötig, die nie gelernt haben, so zu formulieren, daß sich die Betonung aus dem Lesefluß ergibt.
Es folgen dann eineinhalb Druckspalten lang noch mehr solcher Nullaussagen, die immer irgend etwas mit Dualität zu tun haben. Ein paar Beispiele:
Aus dem Mattbild des Königs ergibt sich tatsächlich auch die Formel für das Spiel. Der König ist dann gefangen, wenn er auf seinem Standfeld und auch im übrigen Raum (ein Quadrat aus Feldern, da der König ein Feld in jede Richtung betreten darf) gefangen ist; und kein eigener Stein den König schützend dazwischen ziehen kann (sic!) oder den gegnerischen schachbietenden Stein schlagen kann (Dualismus).
Hervorhebungen wieder im Original. Mit Verlaub – ich kann da keine Formel entdecken. Aber was nicht paßt, wird halt passend gemacht:
Insofern hat die Rochade eine doppelte Wirkungskraft: Turm und König bekommen jeweils ein sicheres Feld und einen besseren Raum.
Und ich dachte immer, der Turm solle aktiv und keineswegs sicher stehen, aber dann wäre ja der schöne 2×2-Zauber dahin. Und daß der König bei einem Zug Richtung Ecke einen besseren Raum
bekommt, ist auch eine nicht nachvollziehbare Formulierung. Er soll hinter seinen Bauern versteckt werden, um Raum geht es da gar nicht.
Das sind nicht etwa einzelne, handverlesene Stilblüten, der ganze Text besteht ausschließlich aus so einem Irrsinn. Die Formel zum Lösen sehr schwieriger Schachprobleme
sieht dann so aus:
Lösungszug ist ein sehr schwer zu findender Zug:
Versuch der Lösung durch umgekehrten Weg. Von der sich tatsächlich sich ergebenden Matt/Pattstellung zu den einzelnen hinführenden Zügen.
Lösungszug kann zum Beispiel nur ein sog.stiller Zugsein, der aber nicht ersichtlich ist: Lösen des Problems mit Zugumkehr. Annahmestiller Zugbereits in Position ausgeführt und nun muss in verbliebener Zugzahl mit gewechseltem Anzugsrecht das Matt-/Patt gefunden werden.
Hervorhebungen wie immer im Original. Ich verstehe es einfach nicht. Wenn sich die Schlußstellung tatsächlich ergeben hat, ist das Problem doch gelöst, egal, ob es sich um Partie- oder Kunstschach handelt. Vielleicht machte korrekte deutsche Grammatik den Gedanken klarer?
Meine Lieblingsstelle ist seine Version der Weizenkornlegende, denn hier soll ein weiser indischer Brahmane namens Chaturanga der Erfinder des Schachspiels sein. Tatsächlich ist Tschaturanga der Name des Schachspiels in den Sanskritquellen, die im siebenten Jahrhundert einsetzen, ohne daß man deshalb genau wüßte, wann und durch wen das Schachspiel erfunden wurde. Das Vokabular läßt auf das Milieu des indischen Militärs schließen, dessen Heer ebenfalls so genannt wurde. 2 Da Sanskrit indogermanisch ist, kann man hier lateinisch quattuor oder russisch четыре wiedererkennen, was jeweils vier
heißt. Da ist dem Autor eine Riesenchance zur doppelten Dualität durch die Finger geschlüpft.
Wes (Un-)Geistes der Kind der Verfasser wirklich ist, wird am Schluß deutlich:
Sowie das gesamte Universum durchgängig durchdacht ist, so ist dieses Spiel durchdacht.
Da es im naturwissenschaftlich fundierten Weltbild an einem Subjekt mangelt, welches das Universum hätte durchdenken können, anstatt es Selbstorganisationsprozessen zu überlassen, bewegen wir uns hier im Bereich des Kreationismus. Und weiter:
Diese im Universum und im Schachspiel vorherrschenden Schicksalsgesetze sind: Dualitätsprinzip (
alles hat 2 Seiten), Polaritätsprinzip (Tag/Nacht- hell- dunkel; Zug- Gegenzug), pars pro toto-Gesetz (Erbgut DNS – Mensch; kleines Feldquadrat, großes Raumquadrat, Harmonieprinzip, Analogiegesetz, Resonanzgesetz, Prinzip von Ursache und Wirkung (jeder Schritt, jede Handlung, jeder Zug).
Es geht also letztlich darum, uns irgendetwas mitzuteilen, das mit Schach überhaupt nichts mehr zu tun hat. Es ist aber einfach zu wirr, um verstehen zu können, was?
Esoterik in der Rochade
Ich frage mich schon, was den Autor dazu veranlaßt, solch einen Schwachsinn zu publizieren. Ob es sich um einen Spieler mit einer 1800er DWZ eines Münchener Vereins handelt, weiß ich nicht. Der steht zwar in der gewöhnlicheren Schreibweise in der DWZ-Datenbank, aber auf der Vereinswebseite kommen beide Lesarten vor; zudem kennt der Autor immerhin die berühmte Retistudie. Seine schachlichen Ausführungen sind – soweit sie überhaubt stimmen – banale Allgemeinplätze, die bei der Zugfindung nicht im mindesten helfen. Seine Postulate zur Natur des Universums sind Ausfluß irgendeiner religiösen Spinnerei, die für mich außer als christlich grundiert und irgendwie synkretistisch
nicht näher bestimmbar ist. Das distanzlose Interesse an Hermetik eines Autors, der sicherlich keinerlei historische Ausbildung hat, ist ein starker Hinweis darauf, daß dieser knietief im Sumpf der Esoterik watet. Die bis die elementare Grammatik hereinreichende Konfusion des Textes ließ mich spontan an psychische Störungen bei ihm denken, aber Texte auf Webseiten des Esoterikmilieus weisen mitunter einen ähnlichen Aufbau mit ständig wechselnden und nur lose verbunden Aufzählungen von Bezugspunkten unterschiedlichster Provenienz aus. Möglicherweise ist dieses Überfluten des Adressaten tatsächlich ein perfider rhetorischer Winkelzug, um die tatsächliche Leere der Argumentation zuzudecken. Dabei ist die bloße Aufzahlung, wie man sie hier im Text immer wieder vorfindet, die so ziemlich schwächste Form logischer Ordnung. Das kann man sich wie ein Kuchenrezept vorstellen: mit der Zutatenliste allein kann man kaum etwas anfangen – es braucht schon wesentlich präzisere Anweisungen, wenn eine Leckerei dabei herauskommen soll. Im übrigen schließt sich beides, Störung und rhetorischer Kniff, ja auch nicht aus.
Das hätte auch ein verständiger Rochaderedakteur unschwer mit ein bißchen Googeln feststellen können, wenn ihm schon die Wirrnis des Texts in formaler Hinsicht nicht genügt, um ihn zurückzuweisen. Während man bisher, wenn man auf die Rochade angesprochen wurde, immer etwas verschämt ihre guten Seiten als Organ des Amateurschachs hervorhob, wird man wohl künftig aus Jugendschutzgründen vor ihr warnen müssen, wenn so etwas da durchgeht.
Anmerkungen
1Patrik Roth: Das Quadrat ist im Schachspiel der Hinweis für die Spielgesetze. In: Rochade Europa 12 (2013), S. 44–45.
2Renate Syed: Kanauj, die Maukharis und das Caturanga. Der Ursprung des Schachspiels und sein Weg von Indien nach Persien. Kelkheim/Ts.: Förderkreis Schach-Geschichtsforschung e. V., 2001. 121 S. ISBN 3934474098.