Villa rustica in Nürtingen-Oberensingen “In den Seelen”


Vorbemerkung: Unfertige Textentwürfe zu einer kleinen Ausstellung in Nürtingen über die Funde, die 1994 in Tübingen entstanden. Die Publikation der Grabung ist erst 2001 erschienen.1 In der Wikipedia gibt es einen Artikel mit Foto.

Das Weltreich des Trajan (117 nach Christus)

Zur Zeit des Kaisers Trajan war Südwestdeutschland seit circa 20 Jahren dem römischen Reich eingegliedert. Auch die Villa rustica in Oberensingen könnte schon bestanden haben. Die Ausdehnung des römischen Reiches hatte nach circa 800 Jahren ständigen Wachsens ihren Höhepunkt erreicht. Riesige Entfernungen waren in diesem Reich zu überwinden. Die Größe dieses Römischen Reiches mit seinem gut ausgebautes Straßennetz führten zu ungeahnten Bewegungen von Menschen und Waren. Römische Zivilisation, Religion und Wissenschaft erreichte jeden Winkel dieses Reiches. Dies spiegelt sich auch in den Funden der Oberensinger Villa rustica wieder. Die partnerschaftlichen Beziehungen des heutigen Nürtingen in Europa erreichen nur den nordwest- und mitteleuropäischen Bereich der ehemals römischen Welt. Diese Partnerstädte, Taff Ely bei Usk (röm. Iska) in Wales, Oullins bei Lyon (röm. Lugdunum) in Südfrankreich sowie Pest Szenterzsébet in Budapest (röm. Aquincum) in Ungarn, bergen ebenfalls alle Spuren der Römer in ihrer Erde.

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Baden-Württemberg unter römischer Verwaltung (circa 90–260 nach Christus)

Die Einverleibung des heutigen deutschen Südwestens in das römische Reich war eine wirtschaftspolitische Maßnahme: die Wege von Mainz nach Augsburg sollten verkürzt und vereinfacht werden. Der Limes wurde, wenn möglich, schnurgerade durch die Landschaft gelegt. Zunächst verlief die Grenze durch das nahegelegene Köngen (röm. Grinario). Kastell und Lagerdorf waren sicher der wirtschaftliche Hintergrund für die Einrichtung des Gutshofes in Oberensingen.

Um 150 nach Christus wurde die Grenze nach Osten vorgeschoben. Die Kastellbesatzung von Köngen wurde nach Aalen verlegt. Das Dorf und die umliegenden Gutshöfe bestanden weiter. Circa 80 Jahre später überrannten die Alamannen erstmals den Limes, und um 260 nach Christus mußten die Römer den Bereich östlich des Rheins und nördlich der Donau wieder aufgeben

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Die römische Besiedlung Nürtingens und seiner Umgebung

Neben dem römischen Gutshof in Oberensingen wurden in Nürtingen und der näheren Umgebung noch weitere römische Funde gemacht. Dieser Kartenausschnitt zeigt das Kastell von Köngen und die Sibyllenspur, die Teil des Limes war. Dazu kommen mehrere Gutshöfe, ein Teil der Fernstraße von Rottenburg nach Köngen sowie einzelne Funde wie die Nürtinger Stierfiguren. Die meisten ländlichen Fundstellen liegen heute noch im freien Feld oder Wald, denn die nachfolgenden Alamannen siedelten nicht auf den aufgelassenen Gutshöfen. Ihre Wirtschaftsweise unterschied sich grundlegend von der römischen.

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Römisches Bauen: Mauern, Heizungen, Darren

Die Bauweise der Römer fußte auf uralter Steinbauweise und war standardisiert. Über einer Rollierung aus flachen Steinen, zum Beispiel Kieseln, wurde aus zugehauenen Steinen eine 60–80 cm dicke Mauer zweischalig mit einer Steinfüllung aufgebaut. Der Mörtel bestand aus Kalk, Sand und Kiesel. Mauern, die zu einer Planungseinheit gehörten, wurden mit Läufern und Bindern ineinander verschränkt. Die Wände wurden entweder roh belassen oder mit Putz versehen, auf dem die Fugen farbig angedeutet wurden. Fußböden erhielten einen Estrich.

Das Aufheizen der Wohnräume und Bäder erfolgte durch eine sog. Hypokaustheizung. Diese hatte Ähnlichkeit mit unseren Kachelöfen. Die Abgase des Holzfeuers wurden hierbei für die Beheizung des Fußbodens und der Wände sowie für die Warmwasserbereitung benützt.

Ab circa 230 nach Christus lassen sich überall in erstmalig zerstörten oder nicht mehr genutzten Gebäuden Kanalheizungen nachweisen. Das Prinzip ist dasselbe wie bei der Hypokaustheizung, jedoch wurde Trockenmauerwerk bei diesen Anlagen festgestellt. Es ist wahrscheinlich, daß sie rein wirtschaftlichen Zwecken dienten, zum Beispiel als Darren.

Typisch römische Architekturteile, die auch zur Entdeckung der Oberensinger Villa rustica führten, sind die sorgfältig aus Stubensandstein gefertigten Säulen, Hypokaustpfeiler, Schwellen und Keilsteine. Ebenso müssen die sehr großen Dachziegel hervorgehoben werden.

Drei Hinweise auf Frischwasserleitungen zeigten sich in Nürtingen. Der Abdruck eines Sinterkernes und eine zugehörige Deichelleitung, sowie eine steinerne Muffe, die oberhalb im Hang an der Stelle einer modernen Drainage gefunden wurde. Beispiele aus Oberwinterthur und Köln demonstrieren, wie diese Wasserleitungen funktionierten.

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Luxuskeramik und Glas

Unter der Keramik sticht eine fein geschlemmte, mit makellosem, glattem, roten Überzug versehene Keramik hervor. Schon an kleinsten Fragmenten erkennt man diese heute Terra sigillata genannte Irdenware. Man kann die Herkunft dieser Gefäße aus verschiedenen Töpfereien, zum Beispiel aus jener von Rheinzabern, nachweisen. Des öfteren haben sich einzelne Töpfer mit Namensstempeln in ihrer Keramik verewigt. Es handelt sich bei Terra sigillata hauptsächlich um Schüsseln und Schalen, die in einem Model gefertigt und auf der Töpferscheibe mit einem Fuß versehen wurden. Eine besondere Variante dieser Keramik wurde in Modeln gefertigt, die mit tönernen Musterstempeln verziert worden waren. Eine weitere, jüngere Verzierungsart ahmt den Glasschliff nach. Auch die sog. Barbotine, bei der vegetabile Muster mit Schlickerbewurf erhaben erzeugt wurden, hat wohl Gläser zum Vorbild, bei denen durch Glasfluß Reliefs entstanden.

Die Glasbläserei und der Glasschliff wurden in verschiedenen Zentren betrieben: zum Beispiel in Köln und in Aquileia, Italien. In Glas wurden ebenfalls nur bestimmte Formen hergestellt. Flaschen der verschiedensten Art für Öle und Parfüme, Trinkgefäße, wohl besonders für Wein, Glasdosen mit Deckel, möglicherweise für die Aufbewahrung von Kräutern. Vom Tongeschirr und auch von Glas wurden die sprichwörtlichen tausend Scherben gefunden, in die es zerspringt.

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Das Geschirr für den täglichen Gebrauch

Vier feste Materialien wurden zur römischen Zeit für Gefäße aller Art benutzt: Metall, Holz, Glas und Ton. Von diesen erhält sich Ton am besten und die einfache Gebrauchskeramik kommt in den Grabungen am zahlreichsten zum Vorschein. Keramikscherben konnten wiederverwendet werden, um sie als Festiger im Estrich zu verbacken, wozu sich besonders die Terra sigillata eignete. Die normale Gebrauchsware endete im Abfall. Die provinzialrömische Keramik wurde auf der schnelldrehenden Töpferscheibe, vermutlich auch im nahegelegenen Köngen, produziert. Die verwandten Tonerden und die Brenntechnik bestimmten Aussehen und Farbe. Da auch damals der Gebrauch von Gegenständen dem technischen Fortschritt und der Mode unterlag, kann man mit der Keramik Grabungsschichten datieren. Die während der Lebensdauer des Oberensinger Gutshofes üblichen Gefäße sind auf der nebenstehenden Graphik zu sehen.

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Schmuck

Obwohl die Besitzer des Gutshofes wohl nicht Hals über Kopf ihr Haus verlassen haben, ist ihnen doch eine erstaunliche Menge an Schmuck- und Wertgegenständen verlorengegangen, unter anderem ein Dutzend Münzen, verschiedene Ringe, Fibeln, Knöpfe, silberne Zierscheiben und anderes mehr. Die nebenstehende Abbildung zeigt, wie der Schmuck getragen wurde.

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Metallgeräte

Die Römer kannten die Bearbeitung und Veredelung verschiedener Metalle: zum Beispiel fanden sich in der Oberensinger Villa Eisen, Kupfer und Kupferlegierungen, Silber und Blei. Silber wurde für Münzen und Schmuckstücke verwandt, die übrigen Metalle vor allem für Gebrauchsgeräte. Bronze kommt bei kleineren, sichtbaren Teilen von Schlüsseln, Truhenbeschlägen, Knöpfen und Füßchen vor; Blei brauchte man vor allem für Abflußrohre oder als Plomben für Behältnisse. Dazu fanden sich relativ viele kleine Metallstücke, deren Verwendung unklar ist. Sehr zahlreich ist Eisen, besonders die vierkantigen, gehämmerten Nägel, des weiteren Haken, Zylinder, Ringe, Ketten, Messer, Spaten.

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Fremdheit – Symbolik der römischen Bilderwelt

Die römische Welt war eine bilderfreundliche Welt, jedoch können wir sicher entweder von einem politisch-propagandistischen oder magisch-religiösem Zweck dieser Bilder ausgehen. In unserem Gutshof fanden sich, abgesehen von den Münzen, eher Beispiele der letzteren Art. Aber die Bedeutungen der Bilder sind uns oft unbekannt. Drei Beispiele sollen herausgegriffen werden: zunächst die beiden vor Zeiten und ohne aufschlußreiche Beifunde entdeckten Stiere. Sie könnten den damals neuen, kleinasiatischen Religionen zugehören, zum Beispiel dem Kult des Jupiter Dolichenus und seiner Begleiterein Juno. Sie werden häufig als Stier und Kuh mit Maske dargestellt.

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Hinfälligkeit

Wie konnte ein so massiv gebauter Gutshof wie der Oberensinger so gänzlich aus dem Gedächtnis der Nachwelt verschwinden? Es gibt zwar Erinnerungen in Form von Straßennamen wie die Rothweilerin in Oberensingen oder Ortsnamen wie Köngen-Grinario, bei denen sich für Kundige ein Hinweis auf die Römer erschließt. Aber von dem Oberensinger Gutshof wußte eigentlich niemand mehr etwas. Der Hauptgrund ist wohl, daß die mit zeitlicher Verzögerung nachfolgenden Alamannen in den seltensten Fällen auf römischen Ruinen bauten. Die Lebensweise und das Lebensgefühl der mittelalterlichen Menschen hatte offenbar mit dem der Römer wenig gemein. Manchmal verirrte sich ein renaissancezeitlicher Jäger in die Nähe der Gutshöfe und verlor, wie auch in Oberensingen, seinen Gürtel, von dem sich der bronzene Besatz erhielt. Auch ein frühneuzeitliches Messer blieb auf dem Gelände des Gutshofes zurück.

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Baugeschichte des Gutshofs In den Seelen

Die Villa rustica des Pla(utus?) in Nürtingen-Oberensingen im Flurgebiet Seelen bestand etwa von 90 bis 233 n. Chr. Diese Zeitstellung beruht auf der Geschichte der Besetzung des heutigen Südwestdeutschlands durch die Römer und auf den im Bereich der Villa gefundenen römischen Münzen und Sigillaten. Das von den Römern besetzte Gebiet galt als kaiserliche Domäne. Ausgediente Soldaten und mit den Römern ins Land gekommene, landlose Bauern aus Gallien erhielten Land zugewiesen, um es zu bewirtschaften. Sie erwirtschafteten Überschüsse, die sie im ca. 6 km entfernten Köngen verkauften. Zumeist lag der römische Gutshof an einem Hang, so daß das zugehörige Land vom Hof aus zu übersehen war. Ebenso entscheidendend für die Auswahl eines Platzes war das Vorhandensein einer Quelle oder eines Brunnens, denn die Römer brauchten viel Wasser. Dies insbesondere für die Bäder, die zu jedem Gutshof gehörten. Das ummauerte Areal eines Gutshofs umfaßte zwischen 1 und 5 ha. Bewirtschaftet wurden etwa 50–100 ha. Hierfür wird eine Bevölkerung von 40–50 Personen geschätzt. In Baden-Württemberg konnten bisher über 1300 römische Gutshöfe nachgewiesen werden. Vermutet werden 5000 und mehr. Soweit festgestellt werden konnte, bestanden zunächst die südlichen Nebengebäude. Erst später wurde das Hauptgebäude mit einem kleinen südlichem Bad angebaut. Dann genügte dieses Bad offenbar nicht mehr. Man baute im Norden eines von doppelter Größe an. Schließlich um ca. 223–230 brannte der Hof nieder. Jedoch wurde er wohl nicht verlassen. Die noch stehenden Reste des Hauptgebäudes wurden für wirtschaftliche Zwecke mit Darren, Öfen und ähnlichem ausgestattet. Das südlichste Nebengebäude wurde dann offenbar bis zum Verlassen des Hofes bewohnt.

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Anmerkungen

1Susanne Kolbus: Die römische Villa rustica von Nürtingen-Oberensingen. In: Fundberichte aus Baden-Württemberg Bd. 25. Theiss Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 9783806217278, S. 537 ff.

Villa rustica in Nürtingen-Oberensingen "In den Seelen" 1

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