ÖPNV (Cantus, NVV) – oder der Kunde als Feind!
Das 9-€-Ticket während der Sommermonate 2022 sollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen:
- Die wegen der durch den russischen Überfall auf die Ukraine samt der wegen der Energiekosten explodierende Inflationsrate sollte im einstelligen Bereich gehalten werden.
- Gleichzeitig sollten im Zusammenspiel mit der schon seit 2018 grassierenden Dürre die Leute an den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gewöhnt werden, um Emissionen durch Autoabgase einzusparen.
Vier Tage vor Ende des 9-€-Tickets demonstrierten Cantus-Bahn und Nordhessischer Verkehrsverbund (NVV) dann, warum man sich als Kunde unbedingt die Möglichkeit des Individualverkehrs erhalten sollte. Zwar gibt es infolge der Privatisierung der Deutschen Bahn zahlreiche Anbieter auf dem Markt, aber auf den jeweiligen Strecken agieren diese de facto als Monopolisten. Und solche müssen bekanntlich auf die Belange ihrer Kunden keine Rücksicht nehmen. Der folgende Erlebnisbericht zeigt, mit welchem kalten Zynismus Cantus und NVV ihre Kunden behandeln:
Es beginnt damit, daß ich Sonntag (28. August) auf dem Rückweg vom Bezirksblitzen (Schach!) in Bad Salzdetfurth den Cantus-Zug in Göttingen Richtung Kassel um 1914 mit Ziel Vellmar-Niedervellmar besteige. Wir kommen glatt bis Hedemünden, aber der Zug macht keine Anstalten, aus dem Bahnhof auszufahren. Bald kommt die Durchsage, daß sich der Zug wegen eines Oberleitungsschadens auf unbestimmte Zeit verspätet. Ich ahne Schlimmes, denn Oberleitungsschäden sind vermutlich nicht trivial. 1996 stand ich mit derselben Diagnose auf dem Weg von Vellmar nach Staßfurt sonntagsabends mehr als zwei Stunden auf offener Strecke im IC nach Leipzig und mußte schlußendlich auf einer Holzbank in der Leipziger Bahnhofsmission übernachten. Dummerweise ist die Toilette im Zug nicht funktionsfähig. Mehrere Leute verlassen den Zug, klettern über eine Absperrung und überqueren das Durchfahrtsgleis, um sich an der Böschung zu erleichtern. Nach einer knappen halben Stunde fährt der Zug nach Hann. Münden und endet dort. Die Durchsage im Zug lautet, daß Fahrgäste Richtung Kassel den Linienbus 30 des NVV um 2047 nehmen sollten. Durch den Zug geht ein Raunen, denn offenbar kann sich außer den Verantwortlichen von Cantus niemand vorstellen, wie man einen nicht gerade leeren Zug in einen Linienbus bekommt. Einige Leute haben Koffer, und natürlich sind auch manche Kinderwagen dabei. Eine Reisegruppe mit Fahrrädern, die von Kassel Hbf. noch weiter nach Frankfurt/Main will, ist sowieso gekniffen, weil für sie ein Transport im Linienbus unmöglich ist. Einen Schienenersatzverkehr, der in solchen Fällen eigentlich üblich ist, will oder kann man nicht einrichten.
Der Bus Linie 30 kommt und fährt auf den Busparkplatz, um seine Ruhezeit abzuhalten (der Bahnhof ist planmäßig Endstation). Dem Busfahrer wird klar gewesen sein, daß der Versuch, diese Menschenmasse einsteigen zu lassen, eine Gefahrensituation auslösen würde. Seine Lösung ist höchst eigenwillig: Er verzichtet gänzlich darauf, jemanden einsteigen zu lassen und verläßt Hann. Münden leer! Ja, sie haben richtig gelesen – er fährt ab , ohne jemanden mitzunehmen. Warum er seine längere Standzeit nicht genutzt hat, um die Polizei um Hilfe zu bitten, bleibt sein Geheimnis.
Etwa gegen 2100 kommt der Zug, der in Göttingen um 2014 abgefahren ist und bringt nochmal einen Schwung Leute. Niemand weiß, was los ist. Es gibt keine Informationen. Ein Fahrplan für die Linie 30 hängt an der Bushaltestelle nicht aus. Und wenn – was nutzt es, wenn die Fahrer niemanden einsteigen lassen? Um mich herum wird hektisch telefoniert. Man sucht Verwandte, die einen abholen können und bildet Fahrgemeinschaften für Taxen. Neben mir ruft jemand bei der Hotline des NVV an. Aber der Call Center Agent weiß auch nur, daß die Linie 30 planmäßig unterwegs ist. Die Existenz von Fahrgästen ist in der Vokabel planmäßig
offenbar nicht inkludiert. Ca. 2120 halten einige Leute einen vorbeifahrenden Streifenwagen an. Die Polizei erfährt offenbar erst jetzt von der Krisensituation. Man mag des angesichts viel schlimmerer Bilder, die man täglich in den Medien sieht, für übertrieben halten, aber es sind etliche Familien mit auch kleinen Kindern. Seit Abfahrt vor zwei Stunden gab es keinen Zugang zu Toiletten, Wasser und Getränken. Und niemand weiß, wie es weitergeht.
Nach zehn Minuten fährt die Polizei wieder ab, kümmert sich aber offenbar. Weitere zehn Minuten später fährt ein Polizeiwagen auf die Bushaltestelle und macht eine Durchsage, die leider kaum zu verstehen ist. Daß manche Leute sich bei den Polizisten beschweren, ist verständlich – von den Verantwortlichen ist ja niemand greifbar – aber auch völlig sinnlos. Die können ja nichts dafür und sind auch für den Transport nicht zuständig. Aber sie bringen in Erfahrung, daß der Bus Linie 30 um 2147 kommen soll. Es kommen weitere Polizeiautos; schließlich sind es vier. Außerdem hat man die Feuerwehr benachrichtigt und auch die Toiletten im Bahnhofsgebäude sollen geöffnet werden. Mit einiger Verspätung kommt schließlich Linie 30. Es wird nur ein Türflügel geöffnet, und drei Polizisten bewachen den Einstieg. Wegen des Gedränges sind sie immer wieder zu lautstarkem Eingreifen genötigt. Außerdem müssen die Familien mit Kindern bevorzugt werden. Ich verstehe, daß dem Fahrer zuvor diese Situation nicht geheuer war – aber warum hat er dann nicht selbst die Polizei gerufen? Knapp 60 Personen kommen mit; ich verfehle den Einstieg nur knapp. Als der Bus um 2211 abfährt, kommt auch gerade die nächste Bahn aus Göttingen. Offenbar hat sich dort mittlerweile herumgesprochen, daß es in Münden nicht weitergeht, denn allzu viele Leute kommen mehr nicht dazu.
Nicht nur wegen des Busses leert sich der Bahnhof doch jetzt merklich. Viele Leute haben sich mitterweile abholen lassen. Ein junger Mann, mit dem ich kurz spreche, wird in Kassel von seinem Vater aus Gießen eingesammelt– das sind etwa 125 km einfache Fahrt. Auch daran sollte man sich erinnern: für viele Reisende Richtung Kassel war dort nicht Endstation! Die Polizei gibt bekannt, daß auch der letzte Bus um 2247 nach Kassel fahren soll. Wer dann nicht mitkommt, soll mit einem Gefährt des Landkreis Göttingen abtransportiert werden, wobei Details noch nicht feststehen. Um 22sup>30 kommt die Feuerwehr mit einem Verpflegungswagen, und jemand öffnet die Toiletten im Bahnhofsgebäude. Eigentlich viel zu spät, denn kurze Zeit später kommt der letzte Bus nach Kassel. Es stehen allerdings auch noch zwei Züge aus Göttingen aus. Ich benutze die Toilette, lasse mir von der Feuerwehr eine Trinkflasche geben, und dann steht auch schon der Einstieg in den Bus an. Der ist zwar proppenvoll, aber anscheinend kommen alle mit, die wollen. Glück im Unglück: da anscheinend keiner der Umstehenden bemerkt, daß der Kinderwagenplatz Klappsitze hat, komme ich unvermutet noch zu einem Sitzplatz. Da der Bus so voll ist, muß relativ vorsichtig gefahren werden. Mein Sitznachbar hat sein Fahhrad in Hann. Münden zurückgelassen. Ein Gast, der später mit einem Fahrrad zusteigen will, wird abgewiesen. Im Ergebnis verpasse ich in Kassel die letzte Straßenbahn nach Vellmar und komme nur bis zur Haltestelle Holländische Straße, die Endstation meiner Jugend. Das kostet mich noch einmal etwa eine halbe Stunde Fußweg.
Mein Dank gilt den Helfern von Polizei, Feuerwehr und wem auch immer in Hann. Münden. Die können nichts dafür, daß man sie viel zu spät verständigt hat. Das Desinteresse des NVV und von Cantus am Wohlergehen ihrer Fahrgäste finde ich allerdings atemberaubend.